... das heißt die Verehrung oder auch die Kunst der Hingabe, das sei eigentlich das Einzige, was einen Menschen interessant mache, sagte der Maler Francis Bacon (1909–1992) in einem Gespräch. Solange es Religion gegeben habe, habe man sich der Religion hingeben können – und in ihr den anderen Dingen des Lebens, dem Geliebten, dem Leben, dem Glauben an einen Gott ... Ein solches Leben sei viel interessanter als die moderne Art von Hedonismus und Planlosigkeit. Dennoch aber verachte er diese frommen Menschen, weil sie in völlig falschen Vorstellungen lebten, die von ihren religiösen Ansichten herrührten.1 Bacon war davon überzeugt, dass im Vergleich dazu ein ganz und gar glaubensloser Mensch, der sich aber total der Sinnlosigkeit des Lebens verschrieben hätte, die noch interessantere Person sein würde. Wie auch immer, gläubig oder ungläubig, eines eint solche Menschen in der Perspektive über das Zentrale im Leben: die Devotion.
Devotion, Verehrung, Hingabe, die beständige Suche nach Erkenntnis der Liebe – das ist auch der Weg, den die koreanische Künstlerin Young-Jae Lee mit ihrem Lebensweg verfolgt. Daraus lebt ihr keramisches Œuvre, aus dem sich ihre Gefäße und vor allem ihre vielen Schalen ergeben; darin gründet die geistige Haltung ihres Tuns.
... ein kleiner, runder Behälter aus festem Material; er ist für einen Inhalt geschaffen, der aus sich heraus keine feste Form hat und dem das Gefäß – vorübergehend – seine Form leiht. Als umfassende, tragende Hülle birgt es das Inkontinente, die Menge der einzelnen Körner oder das Flüssige: alles das, was durch sich selbst keinen Halt herstellen kann. Gefäße dienen dem alltäglichen Gebrauch: zum Nehmen und Geben oder zum Verwahren. Für ausgewählte Inhalte sind sie geschaffen. Leer, wie sie zunächst sind, warten sie auf Füllung. Das ist ihre Bestimmung.
... trägt die Form des Gefäßes. Einer der Urmythen des Abendlandes erzählt es so in der Bibel. Interessant ist dabei, dass im Hebräischen für Mensch und Ton das gleiche Wort verwendet wird: adam und adamah. Wie ein Töpfer schafft Gott den Menschen aus dem Ton – aus Wasser, Erde, Feuer, Wind. Der Ton wird unter der schöpferischen Hand zum Gefäß geformt. Dieser Vorgang ist zugleich eine Vorlage für ein anderes Erschaffen, nämlich des Menschen. Der Prophet Jeremia variiert später dieses Bild, wenn er das Verhältnis Gottes zu seinem Volk Israel nach jenem des Töpfers und dessen Werk beschreibt. Da schickt Gott den Propheten in die Werkstatt eines solchen: »So ging ich [...] hinab« – heißt es da –, »der Töpfer arbeitete gerade mit der Töpferscheibe. Missriet das Gefäß, das er in Arbeit hatte, wie es beim Ton in der Hand des Töpfers vorkommen kann, so machte der Töpfer daraus wieder ein anderes Gefäß, ganz wie es ihm gefiel.« (Jer 18,3 f.)
Im Deutschen kommt das Wort Gefäß vom Verb fassen und bedeutet so viel wie ergreifen, fangen, einfassen, zusammenpacken, aufladen, kleiden, auch schmücken ... Im Altenglischen heißt fassen auch heimholen, im Altisländischen sogar: den Blick finden. Diese gemeinsame Quellenlage führt dann zum Imperativ fass!, also zu der Aufforderung, etwas in ein Gefäß zu tun: fasse etwas ab, bring es in schriftliche Form; beschäftige dich damit. Gehen wir sprachlich vom Indogermanischen noch weiter zurück, zum Lateinischen und Griechischen etwa, dann bestimmt das lateinische continere eher dinglich das Fassen als zusammenhalten, umschließen und umfassen, aber auch als festhalten, mäßigen oder hindern; das griechische skeuos betont auch zunächst das Geräthafte, dann aber ist es im Übertragenen ein Bild für Leib und Seele; in der Sprache der Bibel wird gerne die Thora als ein kostbares Gefäß bezeichnet, was dann auch auf den Menschen selbst ausgeweitet wird, der als Gefäß von Gott geschaffen worden ist. Diese Vorstellung ist in der Bibel nicht nur sprachlich, sondern mythologisch begründet, besonders im sogenannten Zweiten Schöpfungsbericht. Als Gott die Welt schuf, waren zuerst Himmel und Erde vorhanden; dann folgte der Mensch: »Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel machte, gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen, und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerboden bestellte; aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens. Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.« (Gen 2,4–7) – So erhielt also der Mensch seine Gestalt in einer Art Gefäß. Es gab ihm nach außen eine Hülle, die im Innern den unsichtbaren Atem des Lebens bewahrte. Das Gefäß ließ den Raum in der anscheinend leeren Mitte aufscheinen.
... ist das Gegenüber zur Form des Gefäßes; beides ist ein Bild für den Menschen. Nicht von ungefähr unterscheidet daher der Mensch am Gefäß einzelne Teile und Partien mit Wörtern, die er sonst auch zur Beschreibung seines eigenen Körpers benutzt; er spricht von Hals und Kragen, von Schulter und Bauch, von Bein und Fuß. Im menschlichen Alltag ist ein Gefäß zuerst nützlich, dann schön; es erzählt oder bewahrt in seinem Innern manche Geheimnisse oder Schätze des Lebens – und sei es das Andenken an einen Toten. So durch die Sprache vermenschlicht, fungiert das Gefäß nicht selten als dessen Spiegelbild. Durch das Einhauchen des schöpferischen Atems in den inneren, imaginären Raum erfüllt Gott diesen mit Leben und mit dem Aufscheinen des Göttlichen in seinem Sein und Sinnverständnis. Immer aber ist es der Mensch selbst, der diesen Sinn formuliert. Wieder und wieder entgleitet ihm dieser, wie er auch sich selbst verliert. Doch stets füllt er durch die Frage nach dem Sinn diesen imaginären Raum wieder: zuerst mit alten Relikten, dann mit neuer Erkenntnis und schließlich mit Kompositionen aus alten Ideen und frischen Visionen.
In derartigen Bewegungen findet der Mensch seinen inneren Raum neu –, um es mit den Worten von Eduardo Chillida (1924 –2001) zu sagen –, er lädt ihn mit allen Ahnungen und Empfindungen auf und erfreut sich dabei seiner Fähigkeit, ihn gedanklich und künstlerisch zu fixieren und zu erschaffen. So transformiert der physikalische Raum zum künstlerisch ideellen: der Inbegriff von Wille oder Lust, von Reiz oder Liebe, von Vision oder Bild. Hier kreist der Mensch um jene offene Mitte, die wie ein geistiges Zentrum agiert und nicht nur die optischen Kräfte im Betrachter aktiviert. Denn in ihn hinein spiegeln sich paradoxerweise unendliche Möglichkeiten bis zur Gestaltung seiner Freiheit. Um es nochmals mit Chillida zu sagen: »Der Raum? [...] Ich könnte ihn mit dem Atem vergleichen, der die Form anschwellen und sich wieder zusammenziehen läßt, der in ihr den Raum der Vision eröffnet, unzugänglich und verborgen vor der Außenwelt. [...] Dieser Raum muß ebenso erfühlt werden können wie die Form, in der er sich manifestiert. Er hat gewisse expressive Eigenschaften. Er versetzt die Materie, die ihn umgreift, in Bewegung, bestimmt ihre Proportionen, skandiert und ordnet ihre Rhythmen. Er muß seine Entsprechungen, sein Echo in uns finden, er muß eine Art geistige Dimension besitzen.«2
Wenn die ursprüngliche Funktion des Gefäßes im Verwahren besteht, dann liegt ihre philosophische Bedeutung, unsere Vorstellungen und Fragen nach Sein und Sinn aufzubewahren, die Fragen nach Leben und Zukunft, nach künstlerischer Form oder musikalischem Klang. Im Gefäß hebt der Künstler, der es schafft, wie der Mensch, der damit lebt, seine Gedanken und seine Fragen auf. Daher sind diese Gefäße auf eine besondere Weise auch dann gefüllt, wenn sie leer sind. Sie ziehen geradezu wie von selbst ihr Sein aus den fragenden Augen der betrachtenden Menschen heraus und füllen sich wie der Atem stets und ständig in die Leere hinein.
... mit Schüssel und Teller zur Gattung der weit geöffneten Gefäße. Alle drei Formen eint der sich öffnende oder ausladende Abschluss. Mit der Schüssel hat die Schale einen flachen Bauch gemeinsam, in den sie ihren Hohlraum ausbildet; gegenüber dem horizontal bestimmten Teller behauptet sie einen formgebändigten Drang zur Höhe; in beidem liegt ihr Wesen. Schalen streben nach oben. Sie bieten geradezu gestisch ihren Inhalt zum Himmel hin dar, auch wenn das Innere leer ist. Diese flachen Gefäße haben darum neben ihrem nützlichen auch einen ästhetischen, einen kommunikativen, ja einen sakralen Charakter. Inmitten ihrer ausdrücklichen Horizontalität eröffnet sich das Vertikale. Unter allen Gefäßen sind besonders die Schalen dem eng gezogenen Kreis ihrer rein nützlichen Funktion enthoben. Sie haben einen autonomen Charakter und werden so zu künstlerischen Gegenständen. Ihre Formidee empfängt die Schale aus der streng geometrischen Grundform einer halben Kugel, die sie unentwegt umspielt, kreativ transformiert und individualisiert. Als brauchbarer Gegenstand trägt sie zuweilen als kostbarer Behälter hier den Begrüßungstrunk an den Gast, bewahrt dort köstliche Ingredienzen auf, oder sie ergibt sich schließlich – leer, wie sie meist ist – den vielfältigen Möglichkeiten, sie mit Inhalten zu belegen.
Früh schon wird das Füllen von Schalen mit bestimmten symbolischen Handlungen verbunden, seien es alltägliche Zeremonien oder religiöse Riten. Darum zählen sie von Anbeginn der Menschheitsgeschichte zum Sakralgeschirr. In der Bibel ist mehrfach von ihnen die Rede. So gibt es beispielsweise eine Schale (saf), die mit Blut gefüllt wird, um damit im Exodus die Türpfosten zu bestreichen (Ex 12,22); im Buch der Könige befiehlt der Prophet Elischa, eine Schale (sallahat) mit Salz zu füllen, das er dann mit einer symbolischen Handlung in eine Quelle schüttet, um das Wasser zu reinigen (2Kg 2,20); und in der Apokalypse gießen sieben Engel aus sieben Schalen (phiala) den Zorn Gottes über die Erde aus (Apk 16,1–21).
Solche Schalen stehen auf einem flachen Fuß und strecken sich weit in die Horizontale. Sie werden mit beiden Händen gegriffen und bedächtig entleert. Als Gegenstände von besonderem Zweck sind sie dem Zwischenbereich von Handwerk und Kunst zugeordnet – im Gebrauch der Religion, in ihrer Zierde der Ästhetik. Sie stehen gestapelt herum und warten auf ihre Benutzung, oder sie werden bewusst in den Raum gesetzt, weil sie selbst Binnenräume bergen und mit ihren Umräumen eine besondere Einheit eingehen.
... ihrer Heimat hat Young-Jae Lee in den langen Jahren, die sie in Europa weilt, bei aller Offenheit, die ihr eigen ist, nie vergessen oder verdrängt. Ihre Identität ist bleibend geprägt und gespeist vom spirituellen Erbe Koreas, wo Kunst und Religion eng zusammengehören. Diese Verwurzelung versperrte ihr nicht die Entfaltung eines weitgefächerten Interesses für die Kultur und die Kunst des Westens. Früh trat sie als Keramikerin, als die sie sich bis heute begreift, aus dem engeren Bereich des Angewandten heraus und öffnete sich der Weite des frei Künstlerischen. Sie schätzt die schöpferische Zusammenarbeit mit Malern wie mit sensiblen Zeichnern und bleibt doch den strengen Regeln ihrer eigenen Zunft verpflichtet. Sie widersteht den Versuchungen, ihre Gefäße ins Skulpturale zu erweitern, sondern ist den klassischen Grundformen der Gebrauchs- wie der ästhetischen Keramik treu. Gerade hier mag der Grund liegen, dass immer wieder Kunstinstitutionen ihre Räume dem Schaffen von Young-Jae Lee öffnen, sich ihre Werke in wichtigen Sammlungen wiederfinden.
... bleibt bei dieser Künstlerin nicht nur auf die Kunst, die Literatur und die Musik beschränkt. Für sie als Koreanerin gehört auch die Religion dazu. Früh richtete sie daher ihre Aufmerksamkeit auf die mystischen Schriften der Teresa von Avila (1515–1582).3 Diese Gestalt der frühen Neuzeit Spaniens war eine außergewöhnliche, vielschichtige Persönlichkeit, die ebenso gottergeben wie der Welt zugewandt war. Sprachgewandt, phantasievoll, beeindruckend im Auftreten und in der Begegnung, wusste sie in ihrer Zeit Menschen, die wie sie auf der Suche waren, zu helfen, sich selbst und ihrer Zeit gerecht zu werden. Manche von ihnen prägte sie, zog sie an sich und setzte mit ihnen eine der größten Reformbewegungen im klösterlichen Leben in Gang. Wichtig war ihr dabei, jegliche Frömmigkeit zwar auf Gott allein zu beziehen, sie dennoch aber an das irdische Dasein zu binden. Der Mensch sollte lernen, Gott in allen Dingen zu finden und – wo auch immer – das Leben bis hin zu seiner Alltäglichkeit zu bejahen.
Young-Jae Lee las interessiert und fasziniert in diesen Schriften und fand so bald zu ihrer Lieblingsschrift, Teresa von Avilas Gedanken zum Hohenlied der Bibel, die sie im Jahre 1574 zur geistlichen Erbauung ihrer Schwestern in den Reformklöstern niedergeschrieben hatte. Dieser Text wurde ihr zur immer wieder gelesenen Lektüre, ein überschaubares Werk, in dem die großen Grundzüge der teresianischen Spiritualität zusammenfasst waren.4
Für eine Frau im 16. Jahrhundert war es ungewöhnlich – selbst wenn sie eine Nonne war –, ihre persönlichen Erfahrungen im Umgang mit einem biblischen Buch in ihrer Muttersprache niederzuschreiben und dann auch noch zu verbreiten. Schließlich war es die Zeit der Bücherverbote und der Inquisition. Aber Teresa ließ sich nicht davon abschrecken, ihre Gedanken aufzuschreiben, vor allem dann nicht, wenn sie im Gedanken an die Liebe wurzelten.
Das Hohelied handelt von der Liebe zweier Menschen, die sich mehrfach begegnen und wieder aus den Augen verlieren. Hier suchen sie sich, dort finden sie sich. Auf der einen Seite ist es die literarische Gestalt des König Salomo, auf der anderen Schulammit. In diesem biblischen Buch wird die Liebe als die elementare Macht des Lebens beschrieben: »Stark wie der Tod ist die Liebe! [...] Auch mächtige Wasser können die Liebe nicht löschen!« (Hld 8,6b–7a) Teresa überführt in einer sehr eigenwilligen und nur auf einzelne Verse bezogenen Auslegung dieses Liebeslied von der überwältigenden Erfahrung zwischen Mann und Frau in eine allegorische Deutung; entsprechend begreift sie das Bild als die Liebe zwischen dem Bräutigam Christus und der liebenden Seele als Braut. Damit verbindet sie zugleich eine aszetisch-mystische Sicht, in der sich das alltägliche Ringen um die rechte Form und die konsequente Ausrichtung der Liebe verstehen lassen. So wird die Liebe zum Grundprinzip des Lebens erhoben, auf das alles andere hinausläuft. Die ganze Lebensführung mündet in diese Haltung. In diese Sehnsucht schwingen gleich zu Beginn der kurzen Schrift einige Zeilen ein, die auch Young-Jae Lee als permanente Einladung zur Lektüre begreift: »Da mir unser Herr seit einigen Tagen jedes Mal, wenn ich einige Worte aus dem Hohenlied Salomos höre oder lese, ein so außerordentlich großes Geschenk gemacht hat, dass mir das [...] mehr Sammlung gebracht und meine Seele mehr bewegt hat als die vielen frommen Bücher, die ich verstehe.«5
Diese erhebende Stimmung wird allerdings ständig durch alltägliche Erfahrungen gebrochen. Sammlung verfliegt, ernüchternde Zerstreuung stellt sich ein. An der letzten hohen Mauer vor dem Gelobten Land der Konzentration und Versenkung scheitern auch Nonnen und Künstlerinnen. Teresa aber sucht ihre Schwestern zugleich tröstend wie ermunternd kurz vor der Enttäuschung abzufangen: »Das ist etwas Unumgängliches und soll euch nicht ständig beunruhigen und betrüben. Im Gegenteil, lassen wir dieses Mühlengeklapper ruhig weitergehen, und mahlen wir unser Mehl, indem Wille und Verstand nicht zu wirken aufhören. Es gibt da ein Mehr und ein Weniger von dieser Störung, je nach Gesundheitszustand und Witterung.«6
War es die Sprache der Mystikerin, oder war es die verblüffende Nüchternheit ihrer Lebenseinstellung, die Young-Jae Lee so einnahm? Nicht pure Neigung zur Meditation allein, wohl auch die augenscheinliche Nähe zwischen mystischer und künstlerischer Konzentration mögen die besondere Zuneigung zu dieser einfachen Schrift geweckt haben. Die immer gleiche Tätigkeit beim Drehen der Gefäße, die schnell eintretende Monotonie und das leicht mögliche Misslingen eines Werks bei schwankender Aufmerksamkeit ließ die Künstlerin nach geistlichen Übungen suchen. Teresas Schriften wurden für sie wegweisend.
Die Mitte der beständig sich drehenden Tonmasse behauptet sich als die einzige Konstante auf dem Weg zum Gefäß. Dieses erfühlte Zentrum sollte die Formgebung prägen. Aus ihm heraus immer das Gleiche zu erwirken und darin doch jedem einzelnen Gefäß sein Eigensein zu verleihen, immer gleich und immer anders, darin liegt das tiefe und inspirierende Geheimnis dieser jahrtausendealten Technik. Beständig auf der Suche nach dem Besonderen im Vielen, nach der einzigartigen Qualität, das ergibt sich aus der ebenso künstlerischen wie mystischen Erfahrung. Einmal das Gefäß schaffen – ein naheliegender Traum –, welches es wert ist, alles Schaffen einzustellen, dazu muss sich die schöpferische Aufmerksamkeit unentwegt und beständig in die sich drehende, feuchte Masse hineinbegeben, in uns Liebe zu einem Werk erwecken und es von innen heraus als etwas ganz Besonderes, Vollkommenes erschaffen.
1111-mal ist Young-Jae Lee diesen Weg für diese Ausstellung gegangen: Das sind nicht nur 1111 Wege, sondern 1111-mal die Suche nach der einen, letzten Schale; diese gibt sich unerreichbar und hebt sich symbolisch auf in den vielfachen, komplexen Versuchen, das Eine zu erreichen. So transformiert sich die Mengenzahl in eine einzige, lebendige Form des Weges zum Absoluten. Nicht auf eine bestimmte Zahl kommt es hier an, sondern auf eine Form für den Geist geradezu ritueller Wiederholungen auf dem Weg zum Vollkommenen. Im Einzelnen wie im Ganzen berühren die 1111 Schalen das Vollkommene und damit zugleich das religiöse Geheimnis der Welt, in welcher Konfession auch immer: »Non coerceri maximo, contineri minimo, divinum est«, heißt es in Friedrich Hölderlins (1770–1843) romantischem Grabspruch des Loyola. (»Vom Größten nicht umfasst, dennoch vom Kleinsten berührt zu sein: Das ist das Göttliche.«)7
Kaum liegt das Göttliche im Blick, stellt sich schon wieder die Erfahrung der Ohnmacht und der eigenen Inkonsequenz ein. Der Mensch fällt auf dem Weg zum Vollkommenen wieder und wieder in Zerstreuung und Ablenkung zurück. Doch schon ist Teresa mit einer neuen Ermutigung zur Stelle, wird sie doch nie müde, ihren Schwestern unentwegt den Weg zur Geduld zu weisen und das Suchen nach einer höheren Vollkommenheit nicht aufzugeben: »So sollen wir uns also nicht über Ängste beklagen, noch mache es uns mutlos, wenn wir unsere Natur so schwach und kraftlos erleben, sondern bemühen wir uns, durch Demut uns zu kräftigen und klar zu verstehen, wie wenig wir von uns aus vermögen und dass wir nichts sind, wenn der Herr uns nicht seine Gunst schenkt.«8 Das gehört zu den menschlichen Ermahnungen der Teresa an ihre Schwestern, sich nicht aufzugeben, die eigenen Kräfte nüchtern einzuschätzen, angesichts von Schwächen und Ängsten nicht in der Hoffnung und im Bemühen nachzulassen und das Besondere und Große im Inneren zu erwarten. Sie möchte den Menschen inmitten der Spannungseinheit zwischen ruhendem Zentrum und bewegtem Rand verstehen, um so vom Äußeren zur Mitte und von der Mitte zum Äußeren zu gelangen. Für Teresa ist die Seele der Mittelpunkt des Menschen, sie aber will von jenem erst gefunden und eingefangen werden. Hat der Mensch die Seele selbst berührt – so die Erfahrung –, setzt diese den Weg zur innersten Mitte wie von selbst fort. Wo immer er auf seinem Weg steht: Nur von der Mitte seiner Seele aus kann er leben. Dass dem andere, alle Aufmerksamkeit zerstreuende und vielfach die Zuversicht zersetzende Kräfte entgegenstehen, das ist eine dem Leben innewohnende Tatsache. Solche Schwankungen seien normal und von ganz alltäglichen Dingen abhängig, meint Teresa.
So manche Störung lässt sich nicht auf ein bloßes Kommando hin beseitigen. Sie verdient es aber nicht, dass der Mensch sich deshalb als zerrissen und frustriert erlebt, rät Teresa. Man solle sie links liegen lassen. Worauf es ankomme, ist die Hinwendung zu Gott, die freie Hingabe an ihn. Auch an dieser Stelle versucht Teresa, Wege zu einer inneren Gelassenheit zu ebnen, um dem Menschen die manchmal krampfhafte Sorge um seine Konzentration und Gottergebenheit zu nehmen. Es ist ein einfacher Gedanke, den sie dem Hohenlied entnimmt: die Vorstellung, dass Gott selbst eine ordnende Kraft im Innern des Menschen ist und man ihm daher diese Sorge überlassen könne. »Er ordnet in mir die Liebe«, zitiert sie das Hohelied (2,4), und fährt später fort: »So sehr brachte er sie in Ordnung, daß die Liebe, die sie zur Welt hatte, sie verließ, und die zu sich zu Indifferenz wurd.«9
Mit diesen Gedanken begegnen wir wieder Young-Jae Lee. Bei ihr fließen die Spiritualität der Teresa und das Streben nach einer angemessenen geistlichen Haltung beim Erschaffen offener Schalen ineinander. Es waren Mut und Ausdauer, die sich bei der Lektüre der Schriften dieser so ungemein praktisch und doch mit kühnen Gaben und Plänen erfüllten spanischen Mystikerin einstellten und die sie bei ihrem eigenen schöpferischen Tun begleiteten und inspirierten. Beide Frauen sind davon überzeugt, dass die entscheidende Lebensaufgabe des Menschen letztlich darin besteht, dass er als geistiges Ebenbild Gottes die ganze geschaffene Welt, so wie sie ist, annimmt und von innen her als Gottes Werk erkennt. Es liebend und dankbar aufzunehmen ist der Gedanke und die Hingabe dazu in Beruf, Gebet und Liebe ihre Form. Doch immer wieder taucht die Frage auf: Wie erkenne ich diese Liebe?
... Erkenntnis der Liebe?« Diese Zeilen schrieb Joseph Beuys (1921–1986) 1966 zu einer Biografie von Ignatius von Loyola (1491–1555).10
Die Frage weist auf eine Antwort, wie sie in Loyolas Buch der Geistlichen Übungen zu finden ist. Hier steht sie als eine Anleitung zur Betrachtung der Liebe und zu ihrer Überführung in die Praxis. Die Betrachtung zur Erlangung der Liebe gliedert sich in vier Schritte. Sie beginnt mit der Erinnerung an die Gaben Gottes, denen gegenüber eine dankbare Hingabe die angemessene Antwort ist. Sodann wird diese Gabe in ihren Entfaltungen gegenwärtig gesetzt: in den Elementen, in den Geschöpfen und in den Menschen. Doch hier ist der Mensch nicht untätig – so der weitere Schritt –, sondern wirkt selbst aktiv. Schließlich wird betrachtet, wie alle Gaben gleichsam von oben heruntersteigen und auf diese Weise dem Betrachtenden eine neue Sicht der Dinge, ein verändertes Selbstverständnis und ein tiefes Empfinden der Einheit von allem geschenkt werden. Diese Erfahrung vermittelt sich durch das Gefühl der Dankbarkeit und durch die Erkenntnis, dass es die Liebe ist, die dies alles ermöglicht. Die Liebe ist es dann auch, die zum Einschwingen in diesen Wirkzusammenhang einlädt, und das heißt: zum dienenden Mitwirken. Auf diese Weise steigt dann das wieder hinauf, was zuvor heruntergestiegen ist. Da die Liebe praktisch ist, also ihr Wesen im Vollzug liegt, ist sie eine Beziehung, ein Austausch von beiden Seiten. Jeder bringt ein, was er hat und was er kann. Jeder gibt dem anderen, was er nicht hat. Es ist ein ständiges Hin und Her, Auf und Ab, Geben und Nehmen. Die Liebe, von der hier die Rede ist, vollzieht sich aber nicht zwischen Gott(-Vater) und dem Geschöpf. Es ist eine allgemeine Auffassung in der Exerzitienforschung, dass mit dem Subjekt, der Schöpfer und Herr, Christus gemeint ist, von dem rein textlich nicht gesprochen wird. Denn dieser Schöpfer und Herr ist gemäß der Theologie des Ignatius Christus, das menschgewordene Wort, das durch Wirken und Wesen allen Geschöpfen innewohnt und sich in seinen Kreaturen verhält wie einer, der sich abmüht. In diesem Abmühen kommt die theologische Auffassung zum Tragen, dass die Geschichte sich zwischen Kreuz und Endzeit abspielt. Diese Zwischenzeit ist bei Ignatius mythologisch gekennzeichnet durch den Kampf zwischen Christus und Satan. Das letzte Ziel der Schöpfung ist daher noch nicht offenbar geworden. Diese Erhellung des Blicks ist noch zu erringen. Daraufhin ist Christi Wirken ausgerichtet, dazu sucht jener Mitstreiter. Dieses Wirken und Mitwirken – von mühsamer Arbeit ist die Rede – vollzieht sich nun in der ganzen Schöpfung: in den Elementen, in den Himmelskörpern, Pflanzen, Tieren ... und auch im Menschen, dem Christus in begnadender Weise als Kraft, als reine Möglichkeit einwohnt. Aus dieser Tatsache realisiert der Mensch Gerechtigkeit, Güte, Pietät, Barmherzigkeit. Für Ignatius von Loyola wie für Joseph Beuys, für Teresa von Avila wie für Young-Jae Lee ist diese Liebesbetrachtung keine Theorie. Für Mystiker wie für Künstler resultiert sie aus einem inneren Erfahren und Kämpfen. Für Ignatius und für Teresa geht es dabei um die Ausbildung eines Sensoriums zur Realisierung der innersten Bewegungen und Regungen im Menschen und ihre Unterscheidung bei der Frage, was sich daraus für das Leben des Einzelnen vor Gott ergibt. Für Künstler, ob Bacon, Chillida, Beuys, Lee oder andere, geht es um die aus Konzentration und Hingabe erworbene Wahrnehmungs- und Erkenntniserweiterung. Im Wort und Werk, in Schrift und Lebenszeugnis werden so Künstler wie Mystiker zu Wegweisern für andere Menschen. Allen geht es um die Transformation konkreter Prozesse des Lebens, der Natur und der Geschichte. Alle brauchen sie Geduld und immer wieder den geduldig zu übenden Versuch, um zum geistig-geistlichen Aufbruch zu gelangen, in Gelassenheit und Wagnis, in langen – magischen oder alltäglichen – Zahlenreihen sowie in der aufgeweckten Perspektive, das Vollkommene letztlich doch noch berühren zu können. Das wäre dann der Weg, auf dem die Erkenntnis über die Hingabe die Praxis der Liebe einholte.
In: Young-Jae Lee. 1111 Schalen. Hrsg. von Reinhold Baumstark. Ausst.-Kat. zur Ausstellung »Young-Jae Lee. 1111 Schalen« in der Pinakothek der Moderne, München. Hatje Cantz 2006.